La Demande – Abenteuer Verdon

von Torsten Schäfer

Ursprünglich stammte die Anregung zu dieser Klettertour von einem Panoramafoto aus der “Klettern”-Zeitschrift, wo die bekanntesten Routen durch den höchsten Teil der Falaise de l’Escales in der Verdon-Schlucht eingezeichnet waren. Als Thomas und ich dieses Bild sahen, war für uns klar: Einmal in unserem Klettererleben müssen auch wir diese eindrucksvolle und einzigartige Kalksteinfelsmauer durchsteigen! Unser auserwähltes Ziel, die “La Demande” gilt dort als komplettester Komplettdurchstieg, da sie unten am tiefsten Punkt startet, über 320 m bei 13 Seillängen nach ganz oben führt. Mit “nur” 6a bewertet, müßte das für uns doch auf jeden Fall irgendwie machbar sein, waren wir uns einig.

Von den bisherigen Klettererfahrungen hier bestärkt, sitzen Thomas und ich nun an diesem Morgen 8 Uhr mit unserem frisch vom Bäcker in La Palud geholten Frühstück optimistisch auf der Felskante an der Abseile und genießen die gerade über der gegenüberliegenden Schluchtseite aufsteigende Sonne mit ihren wärmenden Strahlen. Da uns die Länge der Tour bewußt ist, geht es gleich an’s Abseilen – zunächst reibungslos zügig die gleiche Strecke wie tags zuvor bis auf einen größeren Felsbalkon in halber Tiefe. Von da aus müssen wir vorsichtig bis an dessen seitlichen Rand queren und finden dort auch prompt die nächste Abseilkette. Ich seile voraus bis auf den nächsten Absatz, wo es etwas unklar ist, wie die weitere Strecke verläuft. Senkrecht nach unten ist es nicht einsehbar, da zu steil. Etwas seitlich eine schräge Rampe zwischen Bäumen hindurch scheint mir nicht der rechte Weg zu sein. Ich lasse mich in Falllinie etwas weiter ab, um nach den Seilenden zu spähen. Die baumeln jedoch schon 30 m unter mir schwindelerregend frei in der Luft vor der überhängenden Wand. Erschrocken und mit einem kribbeligen Gefühl im Magen stoppe ich augenblicklich. Hier geht es also sicher nicht runter. Ich tausche im Seil hängend vorsichtig die Tevas an meinen Füßen gegen die Kletterschuhe am Gurt aus, nehme den Achter aus dem Seil und arbeite mich mit der Prusik gesichert halb am Fels kletternd wieder das Stück zum Absatz zurück. Zum Glück kommt uns in diesem Moment von schräg unten eine Seilschaft entgegen und weist uns den Weg. Also geht es doch in seitlicher Richtung etwas durch’s Gestrüpp weiter abwärts. Schließlich erreiche ich den nächsten Stand gerade am linken Rand eines weiteren Felsbandes.

Hier gibt es zwar keinen abseiltauglichen Haken, aber vielleicht findet sich das ja noch etwas weiter rechts. Jedenfalls lasse ich Thomas erst einmal nachkommen, und auch das Seil läßt sich glücklicherweise problemlos abziehen, ohne sich in irgendwelchen Ästen zu verheddern. Mit Seilsicherung quere ich suchend 50 m auf dem Band bis ich tatsächlich wieder eine Abseilkette finde. Von hier geht es erneut freihängend ohne Felskontakt nach unten. Wenigstens berühren die Seilenden diesmal die Wand, also lasse ich mich hinunter. Fast schon am Ende kann ich aber noch immer keine neue Abseilstelle sehen. Doch – 15 m weiter rechts gibt es einen aus mehreren Sanduhrschlingen gebastelten Stand! Um dorthin zu gelangen muß ich allerdings erst ein paarmal hin- und herpendeln, jedoch mit genügend Schwung klappt es nach mehreren Versuchen. Von hier aus gelangen wir endlich erleichtert an den Wandfuß.

Diese unerwarteten Komplikationen beim Abseilen haben uns allerdings eindeutig zu viel Zeit und auch etwas Nerven gekostet, so daß es nun bereits Mittag ist. Schnell laufen wir zum Einstieg unserer Route und stärken uns kräftig. Kurz darauf nimmt Thomas die erste Seillänge in Angriff. Sehr bald stellt er fest, daß die Tour recht speckig ist, muß wohl sehr beliebt sein. Bohrhaken sind vorhanden, wenn auch wie erwartet mit größeren Abständen. Wir haben reichlich Rocks, Hexentrics, Friends, Schlingen und sogar 2 Cliffs dabei, so daß wir viele Möglichkeiten für zusätzliche Zwischensicherungen haben. Die ersten “leichten” 5c-Seillängen gehen wir wie gewohnt in Wechselführung an. Unterwegs wird zumeist teilweise ungewohnte Riss- und Verschneidungskletterei abverlangt, was uns nicht gerade leicht fällt. Gelegentliche knifflige Stellen meistern wir unter Zurückstellung des Rotpunktgedankens ohne lange zu zögern wenn möglich technisch, z.B. durch Tritt auf den Haken oder in Schlingen, da uns die Zeit sonst davonläuft.

Das Wetter mit Sonnenschein aber etwas schleieriger Bewölkung ist uns wohlgesonnen, da nicht zu warm. Stück für Stück gewinnen wir langsam sichtbar wieder Höhe über dem Talgrund. Nach den ersten vier Seillängen, also etwa einem Drittel der Tour, ist es bereits 15 Uhr. Uns wird klar, daß wir bei gleichem Tempo erst gegen 21 Uhr im Dunkeln oben ankommen würden. Dabei liegen die schwierigeren 6a-Abschnitte noch komplett vor uns – keine beruhigende Aussicht! Die Rückzugsmöglichkeit mit Abseilen ins Tal und einer längeren Wanderung aus der Schlucht hinaus und irgendwie zum Auto zurück trampen ist zwar grundsätzlich vorhanden, aber nicht sehr verlockend. Derartige Aktionen scheinen gar nicht so selten vorzukommen, wie wir aus entsprechenden Schilderungen wissen.

Um schneller voranzukommen, geben wir die Wechselführung auf. Von hier an steige ich die 6a-Längen vor, da ich die letzten Tage gut drauf war und besser mit größer-en Sicherungsabständen zurechtkomme. Wenigstens der Routenverlauf ist problemlos zu erkennen, weil er die ganze Zeit einer mehr oder weniger ausgeprägten Rissverschneidung folgt. Einige Meter neben uns passieren wir wieder das Abseilquerband von vorhin, von wo aus eventuell auch ein anderer Ausstieg über unsere Abseilstrecke möglich wäre, aber wir bleiben auf dem eingeschlagenen Weg. Im weiteren Verlauf weitet sich der Riß zu unserem Grausen in eine spitzwinklige Verschneidung auf, die man, soweit das Auge reicht, fast nur noch als Kamin klettern kann. Die Seitenwände sind meist ziemlich glatt. Wenn es doch einmal einen richtigen Griff oder Tritt gibt, ist der speckig wie Marmor. Mit dem Anbringen von Zwischensicherungen sieht es auch nicht mehr toll aus, da ich meist gar nicht bis hinten an den Verschneidungsriß reichen kann. Haken sind weiterhin nur sparsam gesetzt, so daß ich immer gut in mich hineinhorchen und vorausschauen muß, ob ich es bis zur nächsten Ruhe-position oder Sicherung schaffe ohne dazwischen weitere Stürze zu riskieren.

Worauf hatten wir uns da bloß eingelassen? Im Kletterführer war die Art der Kletterei und Sicherung ja eigentlich genannt worden, so daß wir es hätten ahnen können. Aber nein, selbstbewußt mußten wir uns ausgerechnet den längsten Klassiker in der Wand aussuchen. Nun plagen wir uns hier mit sehr typisch klassischer Kletterei ab und haben zudem noch die Zeit im Nacken sitzen. Zwischendurch fluchen wir beide so vor uns hin, um unsere haarige Situation zu verarbeiten. Es hilft aber alles nichts – wohl oder übel müssen wir da durch. Am Stand ist glücklicherweise immer wieder Gelegenheit zur mentalen und körperlichen Kurzregeneration. Mit dem grandiosen Anblick des tief unter uns fließenden, türkisfarbenen Verdon und den bunt gefärbten Laubbäumen im Hintergrund kann ich Thomas unter mir gut beobachten, der sich mit dem Rucksack auf dem Rücken bei dieser Kaminschinderei zusätzlich abmühen muß, aber dafür hat er ja als moralischen Ausgleich die Seilsicherung von oben. Nachdem sich die Sonne schon vor einer Weile seitlich verdrückt hat, beginnt es inzwischen langsam zu dunkeln. Nach zähem Ringen bin ich dann schließlich diesem unangenehm langen, kräfteaussaugenden Kamin entschlüpft und am Stand vor der 12. Länge eingeklinkt. Ich merke mir gleich den noch erkennbaren Weiterweg vom Standplatz aus. Wer weiß, ob ich den nachher, wenn Thomas hier angekommen ist, noch erkennen kann. Im letzten Dämmerschein geht es anschließend gleich weiter. Zum Glück spendiert die aufgegangene Mondsichel etwas zusätzliche Helligkeit und man kann die letzten beiden Längen am Stück “durchrennen”. Noch einmal muß ich unterwegs am Zwischenstand eine schwierige Plattenstelle technisch bezwin-gen und mich kurz zurück in den Kamin pressen, danach die letzten Meter durch blockiges bewachsenes Gelände, und ich bin tief erleichtert endlich oben an der Schluchtkante angekommen. Schnell richte ich mich zum Nachsichern ein und Thomas tastet sich nun bereits im Finsteren hinterher. Für die letzten Meter muß er sogar noch die Stirnlampe auspacken, da ohne Sicht nichts mehr geht.

Geschafft! Nach zwölf Stunden insgesamt unterwegs klopfen wir uns auf die Schultern, sind beide ziemlich erledigt aber heilfroh nach diesem eindrücklichen Abenteuer wieder schadlos auf ebenem Boden zu stehen. Diese Tour war für uns beide eindeutig die bisher längste und anspruchsvollste Mehrseillängenkletterei, besonders in Kombination mit der prickelnd eindrucksvollen Abseilaktion. Auf jeden Fall war sie eine echte Herausforderung und wird uns ganz bestimmt markant in Erinnerung bleiben!

(erschienen im hrlogo 4/2003)

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